Corona schwarz-weiß

Wenn du nach 22 Uhr noch kurz dem Hund um dein Blog ziehst und merkst: Du hast den Hund vergessen.

geschrieben von Janni Freitag, 23. April 2021 um 01:51 Uhr

Eigentlich war vorhin ich nur wegen #gntm auf Twitter. Dann tauchte aber noch ein anderer Hashtag auf und nun sind außer #gntm und #illner die Top-10-Trends auf Twitter zu einem einzigen Thema: #allesdichtmachen

Hierbei handelt es sich um eine am Abend veröffentlichte Website, auf der 51 (nach anderen Angaben 53) mehr oder weniger bekannte Schauspielerinnen und Schauspieler je ein kurzes Video zu den Corona-Maßnahmen der Bundesregierung veröffentlicht haben. Und dazu, dass die Presse eigentlich nur eine Meinung verbreitet/vertritt. (Man könnte jetzt fragen, ob die Presse überhaupt eine Meinung verbreiten/vertreten sollte.)

Radio Eriwan wurde gefragt: Stimmt es, dass sich in der Sowjetunion Stereoanlagen erübrigen?
Radio Eriwan antwortet: Im Prinzip ja. Man hört ja eh von allen Seiten das gleiche.

Der kleine Teil von Twitter, der seine Ablehnung begründend artikulieren kann, kritisiert, dass die Schauspieler lediglich Polemik, Sarkasmus und Zynismus zu bieten haben, aber keine Lösungsvorschläge machen (was auch durchaus ein Kritikpunkt ist!). Also eigentlich genau wie mein Blog in a nutshell.

Das erinnert mich an die Kurzgeschichte Am frühen Abend von Hans Joachim Schädlich. Sie handelt von einem Handelsreisenden, der einem Obdachlosen Vorschläge macht, wie dieser auf aus seiner Misere herauskommen sollte. Das Gespräch (und damit die Geschichte) endet mit dem Satz „Er hilft mir auch nicht.“

In der 10. Klasse sollten wir dazu eine Interpretation schreiben. Ich war der einzige, der die Geschichte komplett anders interpretiert hat als alle anderen. Während die nämlich die Schuld beim Handelsreisenden sahen, dass er nur Vorschläge macht, aber nicht selbst etwas tut, habe ich dem Obdachlosen vorgeworfen, alle Vorschläge kategorisch abzulehnen. Ich fand mich sogar so gut, dass ich mich freiwillig als erster zum Vortragen meiner Hausaufgaben gemeldet habe ~ und meine Hausaufgaben tatsächlich mal gemacht habe, das möchte ich auch mal betonen! #schlechtesvorbildnis

(Jetzt frage ich mich, warum mir der letzte Satz der Geschichte so in Erinnerung geblieben ist und ich bei der Google-Suche beim Namen Hans Joachim Schädlich sofort wusste, dass es der Autor war. Dabei dachte ich, dass mein Gehirn eigentlich nur noch aus Schlager-Lyrics besteht.)

Vielleicht kann ich auch gerade deshalb darüber lachen, weil es mein Stil ist (ich möchte nicht „Humor“ schrieben). Und weil von den drei SARS-CoV2-erkrankten Menschen, die ich kenne, B.1.1.7 nicht so sehr geschadet hat, obwohl sie alt sind. Ich finde, es sollte keine Tabus für Satire und auch Zynismus geben. Besonders gelungen finde ich folgende Videos:

Der größte Teil von Twitter kennt allerdings nur schwarz und weiß. In diesem Fall heißt das, alle teilnehmenden Schauspieler sind jetzt entweder Helden – oder Nazis, Faschos und Leerdenker. Aber ist es nicht das, was von den Schauspielern kritisiert wird? Dieses Schwarzweißdenken? Dass Meinungen, die die Maßnahmen nicht als richtig (oder nicht hart genug) bezeichnen, grundsätzlich falsch sind? Insbesondere im Video von Nina Gummich. Ich betrachte die Spaltung und Verbitterung der Meinungsfronten und der Gesellschaft als die große Gefahr der Coronazeit. Einige Leute kennen 39 Geschlechter aber nur 2 Meinungskategorien (Nazi und Antifaschist). Bei mir ist das andersrum – und das, obwohl vorhin bei #gntm das glaube ich erste Mal ein Transgender-Model einen Job gekriegt hat.

Die Website allesdichtmachen.de selbst ist inzwischen aus technischen Gründen nicht mehr erreichbar. „Der Server zeigt Civilcourage“, meint ein Twitternutzer. Das finde ich sogar mal lustig, auch wenn den da mitschwingenden Unterton nicht befürworte, dass diese Leute nichts sagen (können) sollten. Meinungsfreiheit abhängig von der Meinung ist keine Meinungsfreiheit. Hmm? Auch über einen Tweet, dass es jetzt 53 weitere Arbeitslose gibt, musste ich lachen.

Am Ende läuft das wahrscheinlich so wie mit dem Megaupload-Song: Keiner der Schauspieler will dann die (deutlich „kritischeren“) Ansichten des Initiators Bernd K. Wunder gekannt haben und alle distanzieren sich. Von sich selbst.

So, ich muss jetzt mal herausfinden, ob es 1989 auch eine Inzidenz von 250 gab. Janni ist raus.

...

Darf ich in einem Hochinzidenzgebiet eigentlich noch nach 22 Uhr bloggen?
(Ohne Hund.)


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