9-Euro-Ticket Helgoland (II) Tag 2: Gute Führung
Die Dinger und Viecher auf Helgoland
Aufstehen um 9. Da ich selbst in dunklen Räumen ohne Schlafmaske nicht mehr richtig schlafen kann, war die Nacht etwas blöd. Da ich eigentlich nicht hier schlafen wollte, hatte ich die nicht mitgenommen.
Egal. Jetzt gibt’s erstmal Chinanudeln.
Dann Auschecken und bezahlen. Gleich bei Öffnung der Bude des Vereins Jordsand 9:30 melde ich mich für deren zwei Führungen heute an. Beide Führerinnen sind anwesend. Die Führung gleich auf der Düne hätte auch ohne mich stattgefunden – dann mit zwei, aber mit mir halt mit drei Teilnehmern. In den 14 Euro ist die Fährfahrt mit drin, die alleine 6 Euro kostet. Die Vogelführung kostet 10 Euro und findet wie gestern erwähnt am Lummenfelsen statt, wo man zu Fuß hin muss.
Es ist aber noch eine halbe Stunde hin. Zeit die Hummerbuden im Morgenlicht zu fotografieren. Mich wundert, dass mir keine der beiden nachruft, dass das die falsche Richtung ist, in die ich gehe. Aber immerhin finde ich so heraus, wer hier diesen ohrenbetäubenden Lärm im Hafen macht: Eine kleine Motoryacht tankt gerade. Eine Frau kommt und fragt nach, was ist los ist: Das Boot würde das machen, damit man merkt, wann es voll ist. Es würde daher immer lauter. Das sei nicht richtig, meint die Frau und es kommt zu einer Diskussion.
So, nun aber ab zum Startpunkt an den Landungsbrücken. Von dort geht es mit der Fähre Witte Kliff rüber auf die Düneninsel. Auf dem Boot treffen die Führerin und ich dann auch endlich die anderen beiden Teilnehmer.
Wir gehen zuerst zum Nordstrand. Dort betrachten wir, was das Meer so angeschwemmt hat: Steine und Seetang.
Frischen grünen Tang könnte man essen, aber aller Tang hier am Strand ist so bräunlich und verdorrt wie der auf dem Bild und stinkt doch recht penetrant nach Ammoniak.
Während wir von West nach Ost über den Nordstrand streifen, sammeln wir Steine. Zwei besonders begehrenswerte gibt es: rote Feuersteine und Hühnergötter – so nennt man Steine mit Loch drin, das nicht durch ein Tier gebohrt wurde sondern entstand, weil weicheres Material in der Mitte des Steins mit der Zeit ausgewaschen wurde. Wir finden keine dieser Steine, nur einen schwarzen Feuerstein. Der Begriff Hühnergott ist übrigens lehnübersetzt aus dem Russischen, da solche Steine mit Loch drin als Schutzamulette genutzt wurden, damit den Hühnern nichts passiert.
Am Ostende des Nordstrands waren die ganze Zeit Seehunde oder Kegelrobben, die sich jedoch von den Menschen dort gestört fühlten und deshalb bis zu unserer Ankunft am westlichen Ende wieder im Wasser sind.
Wir verlassen den Strand und gehen ins Inselinnere. Die Vegetation hier wird dominiert von Kartoffel-Rose und Sanddorn. Auch die Fliederbeere (norddt. für Schwarzer Holunder) findet man öfter. All diese Pflanzen wurden zur Befestigung des Bodens eingeführt. Sie verdrängen allerdings Strandhafer und Strandgerste.
Am Flugplatz gibt es einige Landungen. Wir wollen einen Start beobachten, aber der wird abgebrochen und das Flugzeug rollt zurück auf die Parkposition. Dann also wieder zu den Vögeln, da klappt das mit dem Starten einfach besser.
Auf der Düne gibt es zwei künstlich angelegete Süßwasserseen rund um den Johnny’s Hill, wobei der westliche ziemlich überwuchert ist. Der östliche wird von Möwen genutzt, die hier eine Drüse reinigen, mit denen sie das Salz ausscheiden, das sie aus dem Meerwasser filtern. Außerdem wurden hier essbare Fische und Rotwangen-Schmuckschildkröten ausgesetzt. Letztere vermehren sich aber anders als befürchtet nicht, sondern bleiben in ihrer Anzahl konstant.
Von dort aus geht es dann ab zum Südstream.
Dort sind tatsächlich recht viele Seehunde zugegen. Robben allerdings nicht. Robben fressen übrigens junge Tiere ihrer eigenen Art, aber auch junge Seehunde. Die Seehunde kommen zu dieser Jahreszeit zur Welt, allerdings auf Sandbänken. Seehunde wechseln ihr Fell bereits im Mutterleib, sodass man bei Geburt noch ein Fell mit dazubekommt und die Tiere bereits schwimmen können. Die Kegelrobben kriegen ihre Jungen im Winter, weshalb dann die Strände gesperrt sind. Die Robben können nicht schwimmen und müssen erst ihr Fell wechseln. Robben sind nicht jagbar. Seehunde theoretisch schon, aber sie sind ganzjährig geschont.
Das Bild oben ist eins der wenigen, wo die Seehunde nicht komplett von Fliegen übersät sind.
Hier endet dann unsere Tour um kurz vor halb 12.
Nach der Tour gehe ich am Flughafen entlang. Im Flughafenterminal gibt es ein Restaurant und einen Lebebsmittelladen. Ich kaufe etwas zu trinken und ein Eis. Während ich das Eis esse, beobachte ich einen penetranten Austernfischer, der durch das Tor zum Restaurant geht. Nachdem er ein, zwei Mal vertrieben wurde, bekommt er von Gästen etwas zu Fressen in der Hoffnung, dann wäre Ruhe. Aber der Austernfischer kommt wieder.
Beim Süßwassersee ist nichts los, also ab zur Fähre. Unterwegs nochmal kurz die Glocke am Friedhof der Namenlosen läuten und dann ab aufs Boot.
Zurück auf Helgoland gehe ich zum Kochlöffel. Die deutsche Antwort auf Goldene Möwe und Bulettenmonarch ist eine echte Alternative zu den recht teuren Restaurants – vor allem mit den Gutscheinen, die es auf der Website gibt und die hier gelten.
Noch schnell im Falmmarkt etwas zu trinken gekauft und dann geht’s ab zum Lummenfelsen. Um 15 Uhr ist dort nämlich die nächste Führung des Vereins Jordsand. Namensgeber ist übrigens eine Hallig östlich von List auf Sylt, die man bei Gründung der Vereins 1907 kaufen und zu einem Naturschutzgebiet machen wollte. Das hat nicht geklappt. 2001 ist diese seit 1920 dänische Hallig untergegangen. Der Verein kaufte 1909 stattdessen die Hallig Norderoog in der heutigen Gemeinde Hooge.
Helgoland ist Brutgebiet von fünf Hochseevögeln, also Vögeln, die nur zum Brüten an Land kommen:
- Basstölpel
- Trottellumme
- Tordalk
- Dreizehenmöwe
- Eissturmvogel
Zu denen bekommen wir jetzt etwas erklärt. Früher gab es noch den Papageitaucher, aber der wurde im zweiten Weltkrieg hier ausgerottet, da das Oberland militärisch genutzt und seine Eier gegessen wurden. Papageitaucher brüten normalerweise nur dort, wo sie selbst geboren wurden. Somit braucht eine Wiederansiedelung viel Glück.
Am größten, am längsten hier (März bis Oktober) und auch jetzt in großer Zahl anwesend ist der Basstölpel. Gerüchte, der erst seit 1991 hier brütende Vogel würde die anderen verdrängen, sind falsch. Dazu besetzen sie zu unterschiedliche biologische Nischen. Nahrung und Brutplatz unterscheiden sich nämlich.
Der Basstölpel legt nur 1 Ei, ist seinem Partner auf ewig treu und benutzt immer dasselbe Nest. Möglich, dass die Zahl wieder abnimmt, denn die Vogelgrippe ist nicht mehr weit und von Basstölpel, Mantelmöwe, Heringsmöwe und Seeschwalbe weiß man, dass sie dafür anfällig sind. Neben unserem Startpunkt liegt auch tatsächlich ein Basstölpel, der daran gestorben ist. Ansonsten sterben sie wie gestern erwähnt auch, weil sie ihr Nest mit Netzen bauen, an denen sie sich strangulieren:
Basstölpel sind sehr gute Fischer, die in die Tiefe schnellen, und haben deshalb einen Vorteil hier im Schutzgebiet, wo die Menschen nicht fischen dürfen.
Ein zweiter Vogel, den man von hier beobachten kann, ist die Trottellumme. Unsere Führerin betont, dass es keine Pinguine seien. Die Trottellummen bauen kein Nest, aber ihr einziges Ei hat eine Form, dass es normalerweise nicht wegrollt. Sie können im Notfall ein Ei „nachlegen“. Es sind nur noch wenige Trottellummen da. Mit dem Supertele, das mein Kollege bei unserem Helgoland-Trip 2020 „Lange Anna“ genannt hat, mache ich ein paar verbliebene Trottellummen ausfindig, die die anderen mit dem Spektiv beobachten können, das unsere Führerin mitgebracht hat.
Sie erklärt – wobei sie die Vögel immer wieder als Viecher bezeichnet und sich dann darüber ärgert –, wie das mit dem Lummensprung funktioniert: Irgendwann können die Eltern die Nahrung, die ihr Küken benötigt, nicht mehr heranschaffen, was auch daran liegt, dass die Küken so weit oben auf dem Felsen sind, Trottellummen aber sehr schlecht fliegen können. Deshalb müssen die Lummen vom Felsen springen – anders als manchmal behauptet, werden sie aber nicht gestoßen sondern springen „freiwillig“. Das passiert am späten Abend, weil die Möwen dann schlafen. Hier auf Helgoland schlagen sie nach zig Metern oft auf dem Boden unterhalb der Klippen auf, was sie aber überleben. Dort unten ist am südlichen Teil der Westküste Helgolands auch eine Mauer, die sie nicht überqueren können, weshalb der Verein sie aufsammelt und über die Mauer trägt, nachdem sie beringt wurden. Großes Problem für den Verein ist, dass Lummen sehr schnell sind.
Tordalke sind im Prinzip wie die Lummen. Sie sind auch verwandt. Da Tordalke viel seltener sind (80 Tordalk-, aber 8.000 Trottellummen-Brutpaare) und zudem auch besser fliegen können, ist das Auffinden eines Tordalk-Jungen nach dem Sprung sehr selten. Tordalke legen ihr einziges Ei in einer Kuhle und können nachlegen, wenn das Ei verloren geht.
Dreizehenmöwen legen ein bis drei Eier. Sie können nur an der Oberfläche fischen, aber wegen der Erwärmung der Ozeane schwimmen Fische tiefer. An den Windrädern nördlich wurden Europäische Austern angesiedelt, um die einwanderte Pazifische Auster zu vertreiben.
Eissturmvögel, die man am Nordende der Insel gut beobachten kann (obgleich sie recht weit entfernt sind), drohen hier auszusterben. Sie sind eigentlich Aasfresser, fressen jetzt aber oft Plastikmüll aus dem Meer. Da sie den Müll auch verfüttern, ist ihr Bruterfolg sehr gering.
Die Tour ist jetzt vorbei, aber unsere Führerin Lena beantwortet noch ein paar Fragen zu ihr selbst.
Sie lebt in einer Dreier-WG ineinem Haus hinter der Feuerwehr (am Hafen). „Es ist von innen nicht so schlimm, wie es von außen aussieht“, fügt sie sofort hinzu. Es stört sie, dass sie immer noch nicht als Helgoländerin gesehen wird, obwohl sie seit Anfang September jetzt hier lebt und ihr FSJ macht, das noch bis Ende August geht.
In einer Abstimmung wurde bestimmt, dass der Schutz des Gebiets östlich des Flughafens aufgehoben wird, wo ich vorhin auch vorbeigegangen bin. Dort brüten Sandregenpfeifer. Sie sind sehr klein und ohne Schutz wird man sie vermutlich zertreten. Da man aber zu Tieren wie den Seehunden – die unsere Führerin manchmal „Dinger“ nennt – auf der Düne 30 Meter Abstand halten soll, bringt das Ergebnis der Abstimmung eh nicht so viel, meint sie. Der Verein Jordsand wird allgemein von vielen – meist älteren – Helgoländern kritisch gesehen, da er für diese unter weitere Naturschutzauflagen verantwortlich gemacht wird. „Dann bin ich mal gespannt, wie der durchschnittliche Helgoländer ohne Tourismus seinen Lebensunterhalt bestreitet“, meine ich.
Ich finde, wenn sie die Vögel als Viecher und die Meeressäuger als Dinger bezeichnet, dann soll sich unsere Führerin nicht beschweren, wenn ich die Trottellummen als Helgoland-Pinguine bezeichne. So!
Ich schaue mich noch ein bisschen auf dem Oberland um.
Jetzt aber ab zum Hafen. Vorher noch ein Eis kaufen und dann geht es auf den Rückweg. Der Katamaran ist diesmal mit knapp 90 Minuten etwas schneller, aber von seinen 75 Minuten laut Fahrplan immer noch etwas entfernt. Bei unserer Ankunft gibt es ein schweres Gewitter. Eine Frau so um die 30 macht Witze über den glatzköpfigen Mitarbeiter, der die Fahrgastbrücke zum Boot bringt: Wie scheiße sein Job sei und dass seine Haare ja nass würden – ach, er habe ja keine. Als sie von Bord geht, klopft sie ihm liebevoll auf die Schulter.
Zum Bahnhof fahre ich dann mit dem Shuttle-Bus der Fährfirma. Der ist zwar eigentlich für den Transfer zum Parkplatz, aber er hält auch beim Bahnhof, wenn man fragt.
Schön, mal Helgoland über Nacht gesehen zu haben. Eine Kollegin hat mal ein halbes Jahr im Atoll-Hotel gearbeitet. Im Oktober, wenn die Touristen nicht mehr kommen, beginnt da wohl das große Hamstern und die Winterdepression beginnt, erzählt sie. Man kriege Angst, festzustecken, denn die Fähren kommen nur noch wöchentlich. Dann stürzen sich nicht nur die Trottellummen von den Felsen. Die Vögel nur noch als Viecher und die Robben als Dinger zu bezeichnen ist da wohl das geringere Übel.
Mein nächstes Ziel ist dann nächste Woche Korfu. Der britische Autor und Zoologe Gerald Durrell verbrachte seine Jugend (im Alter von ca. 10 bis 14 Jahren) dort und schrieb über diese Zeit 1969 das autobiografische Buch Vögel, Viecher und Verwandte (dt. 1971). Man könnte glatt meinen, er wäre stattdessen auf Helgoland gewesen und hätte jeden Tag die Jordsand-Touren gemacht.
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