9-Euro-Ticket Vilm – Vilmreif auf der Suche nach Lauterbach
Honeckers Ferienresidenz oder der älteste Urwald Norddeutschlands? Und was hat unser Gesundheitsminister damit zu tun?
Dieser Beitrag behandelt den 13. August 2022.
Karl Lauterbach macht sich auf Twitter zum Affen.
Erst ist da das neue Infektionsschutzgesetz, das von (1.) Oktober bis Ostern gelten soll und das er auf einem Plakat mit Winterreifen verglich. Und wenn die Inzidenz nach oben geht, dann müsse man Schneeketten aufziehen. Jetzt fragt man sich natürlich als Bewohner des norddeutschen Tieflandes: Wenn ich Ganzjahresreifen habe, muss ich dann auch ganzjährig Maske tragen? Und was sind Schneeketten?
Auf Bild HD hat er mal die Ungeimpften mit Nichtschwimmern verglichen, die nicht ins Schwimmerbecken dürften. Nur eins vergleicht er aus unerfindlichen Gründen nicht: Corona und Grippe.
Und dann hat er auch noch getwittert, dass er Corona hat und sich trotz vierfacher Impfung ein bestimmtes verschreibungspflichtiges Medikament eingeworfen hat. In Deutschland besteht Werbeverbot für verschreibungspflichtige Medikamente. Sollte man als Arzt eigentlich wissen, findet Twitter.
Sollte man ihm vielleicht sagen. Also mal in der Bahn-App Lauterbach eingegeben und los geht’s!
Vilm-reif nach Lauterbach
(Der) Vilm [fɪlm] (von slawisch ilumu – Ulme/Ulmenhain, daher Maskulinum) ist eine Insel vor Rügen. Sie ist im Volksmund als Honeckers Ferienresidenz bekannt. Was es damit auf sich hat, möchte ich heute herausfinden.
Die Insel liegt im Biosphärenreservat Ost-Rügen und das Betreten ist reglementiert. Die Fahrgastreederei Lenz hat die Erlaubnis, bis zu 60 Personen pro Tag vom kleinen Ort Lauterbach rüberzubringen und eine Führung zu machen (auf eigene Faust darf man Vilm nicht besuchen). Das ist täglich um 10:00, und bei entsprechend Andrang auch um 13:30. Ich hatte mich letzten Freitag für die zweite Fahrt angemeldet. Eigentlich gehe das nicht, wurde mir am Telefon gesagt, da man die erste füllt und dann die zweite aufmacht, wenn die erste voll ist, aber für mich machen sie eine Ausnahme. (Am Ende sind beide Exkursionen heute ausgebucht, also kein Problem.)
Der RE 1 von Hamburg nach Rostock ist proppevoll. Außerdem muss der Zugführer an jedem Halt bis Schwerin außer Hagenow Land die Leute ermahnen, nicht in den Türen zu stehen. Wir sind in Rostock 9 Minuten zu spät. Der RE 9 nach Sassnitz ist zum Glück ebenfalls 9 Minuten zu spät. Da er auf dem Weg auf 25 Minuten erhöht, bekomme ich in Bergen auf Rügen den Anschlusszug nach Lauterbach nicht. Das Taxisystem ist auch überlastet, da trotz An-/Abreisetag kaum Taxis unterwegs seien. Eine Taxifahrerin überredet einen Taxifahrer, der eigentlich eine (ihm offenbar bekannte) Familie aus einem anderen Zug nach Baabe transportieren wird, mich in Lauterbach rauszulassen. Der ICE der Familie hat ebenfalls Verspätung, aber nur 10 Minuten, sodass er um 13:13 ankommt. Ich rufe bei der Firma Lenz an, ob sie 5 oder 10 Minuten warten können. 5 ja, meinen sie. Ich frage den Taxifahrer, ob er das hinkriegt. Ja sagt er. Na dann.
Der ICE verspätet sich nicht weiter und um 13:32 bin ich dann 25 Euro ärmer, dafür aber in Lauterbach an der Mole und auf der Julchen. Ich werde namentlich begrüßt und bedanke mich. „Bedanken Sie sich bei der Fahrgästen“, meint Kapitän Lenz.
Die „Julchen‘ ist ein seltsames Boot. Die meisten Passagiere stehen während der kurzen Überfahrt am Heck an Deck, das erstaunlich niedrig ist.
Vilm
An der Hafeneinfahrt erwarten uns Kormorane und diverse Möwen. Zu denen kommen wir später.
Am Hafen steht ein Schild, das den Rundweg und ein bisschen was zur Geschichte erklärt.
Der Vilm besteht aus drei Teilen, die in der Weichseleiszeit (der letzten Eiszeit bis ca. 15.000 v.Chr.) entstanden sind: Großer Vilm, Kleiner Film und der Mittelvilm dazwischen. Heute betreten darf man nur den Großen Vilm. Insgesamt ist die Insel 0,94 km² groß – Rügen als größte deutsche Insel mit 926 km² fast tausendmal so groß.
Zur Zeit der DDR gab es hier zunächst regen Besucherverkehr, über 500 Gäste pro Tag. Das war auch für das Naturschutzgebiet nicht so toll und so suchte man nach Möglichkeiten, den Besucherstrom zu begrenzen. 1959 erreichte man aus diesen Gründen hier das Ferienheim des Ministerrats der DDR. Wer in Politik richtig gut aufgepasst hat, wird jetzt den Begriff Honeckers Ferienresidenz in Frage stellen, denn Honecker war nie Minister sondern Staatsrat. Also hat er kurzerhand seine Frau zur Ministerin gemacht und konnte sie dann begleiten – drei Mal. Für Staatsräte wurde damals das Kliffhotel auf Rügen errichtet.
Die Häuser wurden auf landwirtschaftlicher Fläche errichtet, sodass kein Baum gefällt wurde. Architektonisch entschied man sich zudem für den Stil Rügenscher Fischerhäuser und stattete sie modern mit Blitzableitern und elektrischer Heizung aus. Es gibt eine Süß- und eine Meerwasserlöschanlage.
Die Solaranlage, die nahe des Anlegers (Kargenufer) steht, ist erst 2002 errichtet worden. Bei inzwischen strahlender August-Mittagssonne liefert sie 16,5 kW. „40% der benötigen Leistung der hier heute befindlichen Naturschutz-Akadamie. Am Wochenende, wenn keiner da ist“, meint der Kapitän.
Streng bewacht wurde die Insel erst, als es eine Auseinandersetzung zwischen einem Segler und einem Minister gegeben haben soll.
In den Wirren der Wende waren erneut hunderte Touristen am Tag hier, um Honeckers Ferienresidenz zu sehen – und wurden enttäuscht. Seit dem 6. Oktober 1990 ist hier die Internationale Naturschutzakadamie, eine Außenstelle des Bundesamtes für Naturschutz.
Wenn man durch die Siedlung geht, werden die ersten zwei Häuser rechts (erkennbar an den blauen Fenstern) von der Naturschutz-Akademie als Verwaltungs- und Diensthäuser genutzt, ebenso das Haus mit Veranda als Tagungsraum, während die anderen ihren Gästen als Unterkunft dienen. Ständige Bewohner gibt es nicht, die 68 Mitarbeiter kommen morgens mit dem Boot und fahren abends mit dem Boot wieder nach Hause. Jetzt aber auch nicht mehr, denn sie machen seit Corona Home-Office. Einzige treue Mitarbeiter des Bundesamtes für Naturschutz sind die Schafe, die hier das Grasland pflegen.
So, das war’s auch schon zum Thema DDR-Zeit in diesem Post. Er nicht auf Natur steht, kann jetzt aufhören zu lesen.
Heute ist Vilm an richtiger Urwald. Das liegt daran, dass der letzte Holzeinschlag schon 1527 war, als die Witwe von Waldemar II. zu Putbus (so heißt der Ort zwischen Lauterbach und Bergen) das Recht zum Holzschlag an Stralsunder Kaufleute verkaufte. 60 Bäume sollten stehen bleiben. Die Insel war Ende des 17. Jahrhunderts wieder dicht bewaldet, bemerkten die dann herrschenden Schweden.
Ein paar Bäume mussten dann in den 1970ern dann doch für eine große Antennenanlage gefällt werden, Gerüchten zufolge für das Westfernsehen. Dabei wurde ein Seeadlerpaar vertrieben, das auf der Insel brütete. Die Antenne wurde 1990 entfernt und seit 1996 brüten auch die Adler wieder hier.
65 Vogelarten brüten hier, 40 davon auf dem Kleinen und Mittel-Vilm. 48 Schnecken und 500 Pflanzenart gibt es hier. Wenn man sich überlegt, dass es auf der viel größeren Insel Rügen nur 600 Pflanzenarten gibt, dann ist das beeindruckend. An Schlagen gibt es die Glatt- und die Ringelnatter.
Bäume sind übrigens schlau: Wenn sie Äste abwerfen, da sie ihnen nicht mehr nutzen, versiegeln sie die Stelle erst, damit keine Viecher und Pilze eindringen können.
Dieses Jahr ist der Große Haken nicht so groß. Er ist mehr eine Sandbank, da die Verbindung zur Insel Vilm (links vom Bildausschnitt) überflutet ist, aber eigentlich trocken fallen müsste. Übrigens: Wer den fliegenden weißen Vogel in der Bildmitte identifizieren kann, bitte melden. Kapitän Lenz hat ihn noch nie gesehen, meint er, und vermutet, es könnte Blut sein.
Auf dem restlichen kurzen Weg zum Anleger laufen wir durch einen Buchenwald, der auch überall sonst in Deutschland sein könnte.
Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1920er und 1930er hat die Insel Vilm über 300 Maler beeinflusst. Bekannte Werke sind die Landschaft mit Regenbogen (ca. 1810) von Caspar David Friedrich und Erinnerung an eine bewaldete Insel der Ostsee (Eichen am Meer) (1834/35) von Karl Gustav Carus.
Bevor die Maler da waren, war Film zweimal eine Kapelleninsel. Nachdem aber ein Schiff mit 60 Frauen in der Nähe untergegangen ist, hatte es sich auch mit der zweiten Kapelle erledigt. Heute steht nur ein Kreuz auf dem Karkenberg („Kirchenberg“) und erinnert an die beiden Kapellen.
Wir durchqueren noch das Gehöft. Der Stall ist das einzige Gebäude, das bereits vor der Zeit als Ferienheim stand. Er wurde beim letzten bekannten Feuer auf der Insel 1936 zerstört und 1945 wieder aufgebaut.
Gegen 16:15 geht es dann wieder rüber nach Lauterbach. Anders als bei der Hinfahrt ist jetzt die Sonne da, sodass man besser fotografieren kann.
Fazit: Von der Natur her schön, aber historisch hätte ich mir deutlich mehr versprochen. Die Exkursion wird auf dem Boot allerdings auch als deutscher Urwald beworben. Das passt.
Wieder in Lauterbach frage ich, warum auf so vielen Boote im Hafen Vilm steht. Das komme von der Jachtwerft Vilm Yachts seines Vaters da drüben, meint der Kapitän, die Jachten mit diesem Modellnamen baut. Dann will ich noch wissen, woher der Name des Ortes kommt. Das sei wohl der Geburtsname einer der Frau der Familie von Putbus gewesen. Man würde aber jetzt darüber nachdenken, den Ort umzubenennen. „Ich hab mich schon gewundert, warum auf einem Boot in Lauterbach keine Maskenpflicht ist“, meine ich. Das findet der Kapitän nicht witzig. Okay, ich glaube, es ist Zeit zu gehen.
Ich schaue mich noch ein bisschen im Ort Lauterbach um, bevor ich nah Hause fahre. Der Bahnhof im Ort Lauterbach ist ein Bedarfshalt. Ich winke, dann passt das.
In Putbus treffen wir den Rasenden Roland, der ebenfalls von der Pressnitztalbahn (Rügensche BäderBahn) betrieben wird. Der besitzt auch einen offenen Wagen, der sich großer Beliebtheit erfreut. Dürfte am 9-Euro-Ticket liegen, denn es gibt Nachverkehrsmittel, die im jeweiligen Landesticket oder sogar dem Landestarif nicht enthalten sind. Neben dem Rasenden Roland sind das z.B. alle Busse auf den nordfriesischen Inseln, wobei es im SH-Tarif einen Sondertarif gibt, der Sylt enthält. Der Zug, in dem ich sitze, ist hingegen im MV-Ticket enthalten. Es handelt sich um einen ganz normalen Nahverkehrszug.
Der RE 9 nach Rostock wird vor dem Gegenzug nach Binz angekündigt, fährt aber erst ein, als letzterer schon einige Minuten weg ist. In Rostock sind wir etwa 10 Minuten zu spät. Macht nichts, denn der RE nach Hamburg wartet ein bisschen und dann behält seine 10 Minuten Verspätung bis Hamburg bei. Dort habe ich planmäßig eine Stunde aufenthalt, den ich nutze, um ein Bild von der Elphi zu machen. Es ist aber etwas zu dunkel für die echte blaue Stunde und das Ponton, von dem ich fotografiere, schwankt teilweise etwas. Macht nichts – kann man ja die Tage nochmal abends in der Woche besuchen.
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